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Je länger man QiGong praktiziert, je vielfältiger die Erfahrungen (gelernte Formen und Lehrer), desto reicher ist man an Übungen, aus denen man sich immer wieder neu und individuell herauspicken kann, was man tatsächlich gerade braucht. Aber gleichzeitig wird auch klar, dass so ziemlich alle Formen letzten Endes viel Grundlegendes (und insbesondere den Daoismus als Philosophie) gemeinsam haben und dass man am Ende „back to the roots“ gehen und QiGong auf das wesentliche reduzieren kann. Keep it simple! Dann macht QiGong nicht nur Anfängern mehr Spaß und den Erfolg spürbar, sondern auch Fortgeschrittenen einen tieferen Zugang möglich.

Das „einfach machen“, das völlig unangestrengte Erleben (das uns Deutschen zugegebenermaßen oft schwer fällt), das Wahrnehmen und Annehmen von kleinen und großen Veränderungen verbindet QiGong mit seinem philosophischen daoistischen Kontext, zu dem man durchaus über den „Umweg“ des QiGong und Taiji einen überzeugenden und motivierenden Zugang finden kann. Einer der „Pudelskerne“ des QiGong und Taiji ist z.B. „Wuwei“: Das „Handeln durch Nicht-handeln“.
Was zunächst so paradox erscheint und eben deshalb so schwer ist, könnte man als „bewusstseinsveränderndes“ Prinzip des Daoismus bezeichnen, an dem man auf die Dauer nicht vorbeikommt, das aber auch eine Offenbarung ist. Nichts erzwingen (wollen), sondern geschehen lassen und beobachten, nachgiebig sein, sich integrieren in die Natur, das sind Kerngedanken des Daoismus, die auch im Qigong aufgehen.

Das in China üblicherweise ausdauernde, langfristige Lernen durch fortwährende Wiederholung beinhaltet schon eine ganze Menge „Kinesiologie“, die diesen einfachen Zugang deutlich macht:
Nicht mit dem Kopf lernen, sondern mit dem Körper… Nicht das kopflastige (auswendig-) Lernen, sondern das Begreifen und Verinnerlichen macht es möglich: Den Geist (Shen) zur Ruhe kommen zu lassen, das Herz leer zu machen (und das ist für uns „Herz-Messies“ heutzutage sicherlich keine leichte Übung) und den Körper zu lockern, loszulassen…

Das „Betriebssystem“ von QiGong und Taiji ist Bewegung durch Yi (Aufmerksamkeit/Absicht) + Qi.

Diese ruhige und achtsame Form von Bewegung hilft auch vielen „verkopften“ Menschen, den Zugang zu (bewegter) Meditation zu finden, und oft auch zur Philosophie dieser Bewegungskünste.

Ganz wesentliche Aspekte dieses „Betriebssystems“ findet man tatsächlich komprimiert in wenigen kleinen Übungen bzw. kurzen „Vorbereitungen“, die im QiGong und Taiji häufig praktiziert werden. Das ist dann pure Philosophie komprimiert in einer „Nussschale“. Eine von diesen „Nussschalen“ besteht z.B. aus 5 Gedanken, die man sich wirklich nur ganz kurz (in einer halben Minute) „vergegenwärtigen“ und verinnerlichen kann, immer bevor man übt – aber auch sonst, wann immer man eine kurze meditative Pause nötig hat:

1. Die Füße – die Wurzel

Die Aufmerksamkeit, die wir auf die Füße „verschwenden“, hält sich in der Regel sehr in Grenzen. Das ist beim Taiji schon deutlich anders, weil dort schon allein aus der Notwendigkeit der Standsicherheit heraus dem „Verwurzeln“ große Bedeutung zukommt.
Aber auch im QiGong wird schnell klar: Sicher stehen, sich in seiner Mitte ausrichten und Gleichgewicht finden kann man nur, wenn man sich der Bedeutung seiner Füße bewusst ist:
– der Position der Füße, ganz körperlich, „dreidimensional“: Wo und wie genau stehen meine Füße, immerhin geben sie mir meine (Ausgangs-)Position vor!
– des Ursprungs: Der Punkt Yongquan, die „sprudelnde Quelle“, der Akupunktur-Punkt Niere1, das ist der tiefste Punkt des Körpers, im Fußgewölbe, über dem man sich beim QiGong schwerpunktmäßig ausrichtet für einen sicheren aber auch mühelosen Stand, der Punkt, mit dem man in der Erde „wurzelt“ und sich energetisch mit ihr verbindet.
– der Ausrichtung der Fußspitzen als Richtungsgeber der Bewegung und der Ausrichtung des Körperschwerpunktes zwischen den Füßen, in der Körpermitte.

Hier geht es also gleich dreimal um die eigene Ausrichtung: Die körperliche Ausrichtung, die energetische und die eigene Integration in die Natur, als Mensch zwischen Himmel und Erde, als Teil dieser „Dreifaltigkeit“.

Hinschauen (auf die Füße!) ist übrigens erlaubt! Entgegen der spontanen Annahme der meisten Übenden darf man durchaus auf die Füße schauen – und sollte man sogar hier und da. Es lenkt den Blick auf die eigene Position und steigert deutlich deren Wahrnehmung. Und letztere ist sowohl im QiGong wie im Taiji ganz wesentlicher Teil der Übung.

Den Punkt „Yongquan“ findet man in der Vertiefung des Fußgewölbes. Man kann also genau genommen nicht darauf stehen, aber darüber. Es ist der Punkt, über dem der Körperschwerpunkt liegen sollte, und es ist der Punkt, über dem wir uns mit der Erde verbinden und in ihr wurzeln, wodurch sich automatisch eine deutlich spürbare Standsicherheit und Gleichgewicht einstellt, und auf dem ein müheloses Stehen über längere Zeit möglich ist.
Wenn man sich über diesem Punkt ausbalanciert, durch Verlagern vom Vorderfuß zur Ferse sowie über die Mittelachse vom Außenfuß zur Innenseite, dann bemerkt man, dass die Last des ganzen Körpers vom Rücken verschwindet und das Stehen wesentlich leichter fällt. Wer auf Yongquan steht und die Knie locker lässt, für den ist langes Stehen so gut wie kein Problem mehr.

Ein Beispiel: Das erste Bild der „Acht Brokate“ (mit beiden Händen den Himmel halten).
Übe dieses Bild einmal mit dem Fokus und Schwerpunkt auf Yongquan als Ursprung für die Ausrichtung des Körpers nach oben. Vermutlich wird sich die Wahrnehmung für diese Übungen und darüber hinaus das Gleichgewicht im Fußspitzenstand spürbar verändern…

Ganz nebenbei: Die Wahrnehmung der Füße ist eine sehr simple und effektive Achtsamkeits-Übung. Das Wort ist zwar durch seinen inzwischen inflationären Gebrauch und Missbrauch als Werbe-Schlagwort ein wenig „abgegriffen“ – aber vielleicht lässt sich durch so simple Übungen etwas Inhalt darin wiederherstellen… Achtsam kann man sein, wenn man tatsächlich immer genau da ist, wo man gerade ist – im Geiste weder an einem anderen Ort, noch in der Zukunft oder Vergangenheit. – Manchmal hilft auch ein kurzer aber bewußter Blick auf die Füße…

2. Der Himmel – das Aufrichten!

Der Gegenpol zu Yongquan ist Baihui (die „hundertfache Vereinigung“, Treffpunkt aller Leitbahnen, der Punkt Dumai 20): Das ist der höchste Punkt des menschlichen Körpers, die „himmlische Pforte“, unsere Verbindung zum Himmel („Tian“) – da, wo man, wollte man sich am Himmel „aufhängen“, den Faden am Kopf anknüpfen würde.

Es geht um unsere Positionierung, die „Aufhängung“ des Menschen innerhalb der „chinesischen Dreifaltigkeit“:
– Himmel/Kosmos (und Yang)
– Mensch
– Erde/Wurzel (und Yin).

Dem entsprechend ist nicht nur unsere Wurzel bzw. „Verwurzelung“ wichtig, unsere Verbindung zur Erde, unser sicherer, „geerdeter“ und mittiger Stand, sondern auch die Perspektive und der Blick nach oben, die aufrechte Haltung des Körpers (und selbstredend auch des Geistes).

Die Haltung ist im QiGong wie im Taiji grundlegend wichtig für die eigene Standsicherheit und eine stabile und mühelose Ausführung der Bewegungen, insbesondere dann, wenn man einen Schritt macht, ohne dabei seine Sicherheit zu verlieren, oder in die Tiefe geht (d.h. die Knie beugt) ohne dabei nach vorne zu kippen oder auch seine Knie übermäßig zu belasten. Häufig merkt man erst durch eine leichte, vermeintlich unwesentliche Korrektur seiner Haltung bzw. seines Stands, wie ausschlaggebend es für die Leichtigkeit und Mühelosigkeit in der Ausführung ist, wenn man „im Lot“ und in seiner Mitte steht.

Und es lässt sich – wie so oft im QiGong – sehr leicht verdeutlichen:
Man nehme irgendein Bild aus einer QiGong-Form, das einem Mühe macht, bei dem man das Gefühl hat, dass man umkippt oder das Gleichgewicht verliert und übe sie unmittelbar hintereinander mit jeweils kleinen aber ganz bewussten Veränderungen:
a) Verlagerung des Schwerpunktes auf den Füßen von der Ferse zu den Fußspitzen und wieder zurück bis man sich wieder auf Yongquan eingependelt hat
b) Verlagerung des Schwerpunktes zu seiner eigenen Körpermitte (nicht vorne, nicht hinten, nicht rechts oder links, sondern in der eigenen Mitte stehen) und
c) die Ausrichtung des Körpers nach oben, so dass man das sprichwörtliche „Krönchen auf dem Kopf“ nicht verliert…
Wenn man über Yongquan, in seiner Mitte und aufrecht steht, dann verliert sich oft jegliche Unsicherheit im Gleichgewicht und Anstrengung von ganz allein.

3. Das Lächeln – die Reinheit!

Schau Dich mal um, in Deinem Alltag, in den Gesichtern um Dich herum, aber auch auf Dich selbst: Wie oft lächelst Du am Tag? Und jetzt gerade? Und warum nicht?

Es ist eine längst erwiesene Tatsache: Die Physiologie von Lächeln und Freude lässt sich nämlich umkehren: Wer öfter mal lächelt, der ist auch glücklicher! Es funktioniert also auch „andersrum“ – das Lächeln im Gesicht signalisiert dem Gehirn „es geht Dir gut, Du bist glücklich“.

Aber auch unsere Beobachtung von Kindern zeigt es, sie lächeln nämlich noch deutlich öfter als wir Erwachsenen… warum das so ist, muss man wohl nicht groß erklären.

Was Kinder da so unwillkürlich tun, müssen wir Erwachsenen uns leider erst wieder „erarbeiten“ und uns immer wieder selbst daran erinnern: Lächeln bedeutet, Qi auszutauschen, schlechtes Qi loszuwerden, gutes Qi aufzunehmen und zu sammeln, sich für Positives zu öffnen und wieder Leichtigkeit zu empfinden.

Selbst dann, wenn man absichtlich lächelt, zeigt sich eine deutliche Reaktion im Körper: Mit dem Lächeln kommt ad hoc eine unwillkürliche und spürbare Entspannung von Gesichts-Mimik und Körperhaltung, verkniffene und angespannte Gesichter werden plötzlich weich und gelöst, die Schultern sacken plötzlich ab, der Körper „lässt los“. Lachen ist ja nicht nur die „beste Medizin“, sondern eine spontane Ganzkörper-Entspannung. Gerade für vor Ehrgeiz und Perfektionswahn dauerhaft angespannte Menschen ist es eine echte Wohltat.

Aber auch geistig bringt das Lächeln eine große Erleichterung mit sich. So wie ein Kinderlachen ein „reines“ Lachen ist, so bringt das Lächeln eine „geistige Reinigung“ mit sich, die auch dem Herzen gut tut, denn das Herz ist „das Haus des Shen“.

Lächeln bedeutet die Bereitschaft und Offenheit für das was ist…

Und: Lächeln ist ein Zeichen von Freundlichkeit.
1. Sei freundlich zu Dir selbst, zu Deinem Körper, denn Du hast nur den einen!
Und 2. sei freundlich zu den Menschen um Dich herum, und zur Umwelt, zur Natur. Auch das ist Achtsamkeit.
Probiere es mal aus, beim nächsten Einkauf, an der Kasse… Ein Lächeln kostet nichts (auch keine Zeit) und ist überhaupt nicht anstrengend, sondern pure Leichtigkeit.

By the way: Es ist nicht nur ein Zeichen von Respekt und guter Erziehung, sich bei einem Trainingspartner am Ende einer (Partner-)Übung zu bedanken. Es ist ein Zeichen der Wertschätzung, das dem Partner ein positives Gefühl gibt, das auch zurück kommt: Dem „Danke“ folgt ein „gerne wieder!“…

4. Das Herz – das Haus des Shen

Ich hatte es eingangs bereits vorweggenommen: Wir sind (oder die meisten von uns jedenfalls) die reinsten Herz-Messies!
Die meisten von uns haben im Herzen einen ganzen Haufen Unrat, der da nicht hingehört: Schlechte Erinnerungen, Ressentiments und anderer „Krempel“, der sich im Laufe der Zeit da ablagert und nicht entsorgt worden ist… Das ist nicht sehr hilfreich, wenn das Shen, der Geist, zur Ruhe kommen soll. Und da das Shen im Herzen wohnt, gehört es zur allerersten Maßnahme auf dem Weg zum „schöner Wohnen“ in Deinem Herz, diesen Krempel beizeiten auch wieder loszuwerden.

Es ist nicht nur eine große Hilfe beim QiGong und Taiji, sondern gewissermaßen philosphischer Hintergrund, wie bei der Meditation, den Geist auf „Standby“ zu schalten, zwar „wach“ zu sein, aber nichts zu denken, sich nicht ablenken zu lassen, sondern das „da sein“ zu üben. Kein Kopfzerbrechen, kein Gedankenkarussell! Nicht an das Abendessen oder die Familie denken, an den Einkauf, die Heimfahrt oder an Arbeit und Kollegen… Da sein, wo man gerade ist! – Nicht woanders, nicht davor und nicht danach.

Richte Dein Bewusstsein von außen nach innen, von Deiner Umgebung weg, hin zu Deiner Mitte, fokussiere auf Dein Herz und lasse Dein Shen auf „stand-by“ gehen:
Stell Dir vor, Du gehst in Dein Herz und es ist riesengroß und weit und LEER!

Das heißt im Sinne des QiGong: Das Shen ist ruhig, das Herz ist leer, das Dantian (Unterbauch) voll.

5. Das Lockerlassen – den Körper entspannen

Das Lockerlassen - den Körper entspannen

Lockere Deinen Körper und entspanne Dich. Nicht die Muskeln spielen eine Rolle beim QiGong, sondern die Leichtigkeit, die Unangespanntheit, die fließende Bewegung, die Deiner Aufmerksamkeit (Yi) und dem Qi folgt (deiner Atmung!). Das Loslassen ist Voraussetzung für das Fließen, für die Bewegung durch Qi. Lockerheit und Entspannung ermöglichen erst die fließende Bewegung und machen sie mühelos, ökonomisch und effektiv!

Eigentlich kann man sagen: Sobald wir bewusst die Bewegung durch Muskelkraft ansteuern, sobald eine Bewegung in Anstrengung ausartet, ist es Gymnastik. Das hat mit QiGong nicht mehr viel gemeinsam. Beim QiGong wird weder angespannt noch gedehnt. Immer dann, wenn der Fokus auf der Bewegungsausführung liegt und dabei die Atmung ins Stocken gerät, verliert sich der eigentliche Antrieb von QiGong. Denn beim QiGong folgt die Bewegung der Atmung – nicht umgekehrt.

Gebe niemals 110% Deiner Kraft und Beweglichkeit (denn wir sind hier nicht im Leistungssport), sondern bleibe immer bei 80%, immer im Bereich dessen, was ohne jede Mühe (und ohne Luft anhalten!) machbar ist. Solange die Atmung führt, ist die Bewegung unangestrengt, fließend und effektiv.
Hierin findet man auch wieder eine der vielen Verbindungen zum Daoismus, mit dem man sich vermutlich irgendwann zwangsläufig befasst, wenn man sich mit QiGong oder Taiji länger beschäftigt.

Laozi_Dao

QiGong in einer Nussschale – eine kleine Vorbereitung:

Das, was für QiGong und Taiji von grundlegender Wichtigkeit ist, verliert sich weniger in Äußerlichkeiten, sondern lässt sich, wenn man es ziemlich dicht „eindampft“, in eine Nussschale packen.
Man kann es wie ein kleines „Gebet“, als kurzes Vorbereitungs-Ritual nutzen und es sich immer wieder verinnerlichen:

1. Auf die Füße achten (und auf Yongquan), in der Erde wurzeln…
2. Zum Himmel ausrichten, aufrecht sein!
3. Lächeln!
4. Das Herz leer machen und weit, dem Shen seinen Raum und Ruhe geben…
5. Loslassen!

QiGong ist Da-sein, atmen, freuen.